Ein Baum, Sonne und Schatten: Das sind die Zutaten für ein Stück interaktive Kunst namens Prune. Prune ist ein kleines Mobile-Game, über die einfache Freude am Wachstum von Bäumen. Wtf!? Ja ja, Prune ist nicht für „Gamer“, sondern für alle. So jedenfalls beschreibt Entwickler Joel McDonald sein Werk. Und Prune macht eigentlich generell nichts richtig: Es ist nicht Free 2 Play, es gibt keine In-App-Käufe, es ist zu teuer (3,99 Euro) und weiß nicht jeder, dass Steam/PC die Plattform der Wahl ist, wenn man Indiegames macht?
Aber Prune hakt sich mit seiner wunderbaren, japano-angehauchten Optik sofort am Auge fest. Ich bin auf dem Zürich Game Festival auf das Spiel gestoßen und mit meiner Kamerafrau sofort im Geäst hängengelieben (sorry, keine Baum-Wortspiel beyond this point ;-)). Und Kamerafrau Kerstin bestätigt unbewusst sofort, dass das hier ein Spiel für alle ist. Ohne jegliche Spielerfahrung dirigiert sie meine Baum-Kultivierungsversuche und sagt, wo ich bitteschön absäbeln und wegschnippeln soll und bitte noch einen Hauch da rechts! Und so zurechtgestutzt streckt sich mein Bonsai der Sonne entgegen, vorbei an bruchgefährlichen Klippen, Schatten und den roten Sonnen, die den Baum verbrennen, sobald ein Ast zu nahe kommt. Begleitet wird das Ganze von einer atmosphärischen Klangkulisse und minimalistischer Musik (Kyle Preston). Nur ich und die Bäume. Das ist zu Beginn noch recht einfach, wird aber dann zunehmend schwieriger: Mal sorgt heftiger Wind dafür, dass das Bäumchen in die falsche Richtung gedrückt wird, mal fragt man sich, wie man an mehreren roten Sonnen vorbeikommen soll. Prune hat durchaus ein paar Herausforderungen – bei aller Schönheit und Zen-Feeling. Schneidet man zu viel, ist es aus mit dem Bonsai. Ebenso, wenn man wild wuchern lässt: Dann wächst er entweder gar nicht mehr oder zerbricht an der nächsten Klippe. Wenn das passiert ist, bleibt nur eins: Mit dem Finger zieht man einen neuen Schößling aus dem Boden und versucht es mit einer neuen Strategie.
Eigentlich hatte Joel McDonald gedacht, aus dieser charmanten Idee in 2 bis 3 Monaten ein fertiges Spiel schaffen zu können. Dabei dachte er sogar, mit nur einem Monat Entwicklungszeit auskommen zu können. Aber dann habe er sich doch lieber diesem Standard-Ratschlag gebeugt, dass man seine Schätzung mindestens verdoppeln oder eher verdreifachen sollte. Wie sich herausstellte, war selbst die Verdreifachung nicht genug. Gedauert hat es am Ende ein Jahr und drei Monate. Im Juli 2015 erschien es im US-Appstore. Was und warum solange gedauert hat, erzählt Joel in einem ausführlichen Post Mortem bei Gamasutra. Gelohnt hat es sich für ihn: Das Spiel bekam Apple Editors‘ Choice Award, wurde TIME Magazins „Game of the year“ und erhielt kürzlich in der Schweiz den Ludicious Award. Damit hat es selbst die optimistischsten Erwartungen locker übertroffen:
For most of the game’s development I had zero clue as to how the game would be received since it was this weird procedural, interactive art thing.
(Joel McDonald bei Gamasutra, 12. Februar 2016)
Die Baum-Kreationen sind jedenfalls alle immer wieder anders und die schönsten Gewächse lassen sich natürlich mit der Welt teilen.
Joels Post Mortem zu lesen lohnt sich. Denn er verzichtet bewusst auf Schönrednerei und erzählt freimütig, dass er durchaus verschiedentlich Privilegien genossen hat, die nicht jeder Indie-Dev habe. Weiß, männlich, der Vater Programmierer, Erfahrung im AAA-Bereich: das alles seinen Faktoren, die vieles leichter machten. Und selbst so sei es schwierig genug gewesen, Prune fertigzustellen. Am Ende ist es eben auch ein wenig Glückssache. Beispielsweise, in der Woche VOR dem Angry Birds 2 Realease im App-Store aufzuschlagen. Was natürlich reiner Zufall und nicht planbar war.
Und falsch gemacht habe er trotzdem noch genug:
I spent the next six months prototyping all kinds of things–shield power-ups, infinite fractal trees, tree planets, weird inverted trees, and countless game modes like 2-player coop, FRENZY!, and endless modes.
(Joel McDonald bei Gamasutra, 12. Februar 2016)
Was war passiert? Joel hatte sich den Ratschlag erfolgreicher Indie-Entwickler zu Herzen genommen, erst mal alle Design-Möglichkeiten rund um die Ursprungs-Idee auszuprobieren. Und verlor sich im Dickicht (sorry! again!) seiner geliebten Bäume. Er probierte einfach alles aus, was lose mit der Ursprungsidee in Verbindung stand, statt sich zu fokussieren.
I would waste hours of my time tweaking the look of a soon-to-be-cut mechanic, days of my time picking the exact right font, and weeks or months of my time deliberating over decisions such as how to represent the score in game.
(Joel McDonald bei Gamasutra, 12. Februar 2016)
Das ist übrigens etwas, was ich sehr gut nachvollziehen kann. Ich habe oft noch nicht mal gedreht, aber natürlich schon Bilder im Kopf und höre dann stundenlang Musik durch, die natürlich perfekt sein muss. Oder surfe wegen einer Bildidee tagelang nach Vorlagen für irgendwas, was ich basteln möchte, um es abzufilmen. Solche Kleinigkeiten, die dann am Ende vielleicht nicht mal bewusst wahrgenommen werden, sind aber doch wichtig fürs Gesamtbild.
Was Joel damit meint, dass sein Spiel nicht für „Gamer“ sei und warum er das heraushebt, werden die meisten hier wissen, oder mindestens ahnen. Es heißt aber nicht, dass er da irgendwelche Animositäten hegt. Gemeint ist, dass es für Gamer mehr als genug Auswahl gibt. Nicht aber für alle anderen. Wer die sind? Nun, alle Menschen, die sich selbst nie als Spieler bezeichnen würden, obwohl sie spielen. Oder vielleicht sogar bisher gar nicht spielten. Meiner Meinung nach funktioniert Prune aber auch für Gamer/Spieler. Wer auch immer offen ist für charmante Ideen, wer künstlerische und kreative Besonderheiten schätzt und sich von reduzierten Möglichkeiten nicht abschrecken lässt: Go for it. Bevor man 10 Euro in irgendeinen Boosterpack per In-App steckt, gebt lieber einmal 4 Euro aus. Ja, es gibt unzählige niedliche Match-3-Spielchen und handgezeichnete Zombie-Tower-Defense-Kram, von denen auch viele gut sind. Aber das hier ist anders und das ist einfach sehr angenehm.
Zu haben für iOS, Android und Windows.